timo-janca
Der Dichter hat mich in die Berge gelockt. Hier in Pshavi, einer Siedlung, die aus einer Straße besteht, an der sich bescheidene Gehöfte aneinanderreihten, endete die Route des Minibusses auf dem sandigen Wendeplatz. Zur Linken erstreckte sich ein Tal, zur Rechten standen drei Bungalows herum, die als Hausmuseum des Dichters dienen, welcher sich zur Zeit der Romantik Legenden über die Völker an der Schnittschnelle zwischen Tschetschenien und dem zu Georgien gehörenden Chewsuretien ersonn. Immer wieder war es von Seiten der Tschetschenen zu Raubzügen gekommen, dennoch liest sich das bekannteste Poem des chewsuretischen Dichters eher wie ein Versuch des Verstehens, wie es zu den Übergriffen kommen konnte. Denn als Held seiner Geschichte wählt er ausgerechnet einen Angehörigen der Tschetschenen. Eines Tages verläuft sich ein Chewsurete auf dem Stammesgebiet des verfeindeten Volkes und ein Tschetschene nimmt ihn als Gast in seinem Haus auf. Schließlich gilt im Kaukasus ein Gast stets als ein Geschenk des Himmels. Doch leider sieht die Dorfgemeinschaft den Fall ein wenig anders und fordert die Herausgabe des Gastes. Hier steht der Tschetschene nun vor dem Zwiespalt, entweder seine Loyalität gegenüber dem Stamm oder die Tradition der Gastgeberschaft zu verraten. Es stellt sich die Frage, ob man eine einzelne Pflicht zugunsten des Fortbestehens der gesellschaftlichen Ordnung opfern sollte, wenngleich diese ja gerade die zur Disposition stehende Pflicht geboren hatte. Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt besteht in der Konfrontation von einem die Tradition wahrenden Individuum mit einer Gruppe, welche die Suspendierung der gemeinsam beschlossenen Tradition einfordert. Nun kann man schlussfolgern, dass Konventionen durch eine Mehrheit beschlossen wie auch modifiziert werden, sodass der Tschetschene die Pflicht hätte, seinen Gast auszuliefern. Ebenso schlüssig wäre es aber auch die Gruppendynamik im Stamm zu hinterfragen, den hinter dem vermeintlichen Mehrheitsbeschluss könnte ein durchsetzungsstarkes Individuum stehen.
Eine gänzlich andere Zwickmühle erwartete mich bei Erreichen des Hausmuseums des Dichters. Der Fahrer des Minibusses stellte mir ein Ultimatum von einer halben Stunde, um mich umzusehen. Danach wolle er in die Stadt zurückkehren, für mich sei dies die einzige Verbindung am heutigen Tag. Ich dankte ihm für die Information und machte mich zur Tür des Museums auf, die verschlossen war. Enttäuscht blickte ich mich um. Auf dem staubigen Rundplatz stand der Bus. Der Fahrer war schon verschwunden. Mein Blick fiel neben das Museum auf ein kleines Rundtheater. Dort saßen zwei Jungen und musterten mich neugierig. Ratlos wies ich auf die Tür. Da näherten sie sich und deuteten auf das Häuschen auf der Gegenseite. Also bewegte ich mich dort hin. Schon kam ich am Bus vorbei, da tauchte der Fahrer unvermittelt auf und fragte mich, ob ich denn mit ihm zurückfahren wolle. Dies verneinte ich und bewegte mich auf das Häuschen zu. Im Vorgarten stand ein älterer Herr, der mich verwundert anstarrte. Nun kamen die Jungen hinzu und erklärten ihm in einer fremden Sprache, was ich wolle. Offenkundig verstand der Herr, denn kurz verschwand er hinter der Haustüre. Als er wieder auftauchte, baumelte ein Schlüsselbund an seiner Hand. Klimpernd wies er mich an, ihm zu folgen. Wir gingen am Bus vorbei, wo mir der Fahrer ein letztes Mal signalisierte, doch einzusteigen. Meine Schritte lenkten mich aber schon zur behäbigen Pforte, die sich mir nun öffnete. Dahinter standen Räume voll mit Notizbüchern und Schreibzeug des Dichters, an den Wänden hingen Zeichnungen und Ölbildchen. Kaum eine halbe Stunde später stand ich wieder auf dem Rundplatz und schaute mich um. Sollte ich etwa die Tradition des Gastgeberschaft austesten? Langsam schlenderte ich die Straße entlang, die Häuser streiften an mir vorüber. Schon erreichte ich die Hauptstraße, wo der Minibus nach Pshavi eingebogen war. Nach rechts führte die Strecke tiefer in die Berge, wo die Siedlung Shatili lag, welche in den Poemen des Dichters beschrieben wurde. Nach links führte der Weg die Hügel und Berghänge hin zur Aufstauung des Flusses, an dem sich die Feste Ananuri erhob, in der einst der legendäre König Dawit Zuflucht gefunden hatte.
Aus meinen Gedanken schreckte mich ein heranfahrender Jeep auf. Daraus stiegen zwei Männer des Dorfes aus, beschaunten mich und wollten wissen, aus welchem Himmel ich wohl gefallen war. Zuerst machten wir ein paar fröhliche Gruppenfotos, dann setzte sich einer der Männer in seinen Jeep und telefonierte. Auf einmal rauschte eine Kolone schwarzer Limousinen heran. Hinter den verdunkelten Scheiben war niemand zu sehen. Doch plötzlich stoppten sie und heraus stieg ein junger stämmiger Mann mit Sonnenbrille. Belustigt schaute er auf mich und die zwei Dorfbewohner. Dann sprach er mich auf Englisch an und fragte mich, ob ich mich verlaufe habe. Darauf erwiderte ich, dass es eigentlich mein Vorhaben gewesen sei, das legendäre Bergdorf zu besichtigen. Er überlegte kurz und ging dann zurück zu den Limousinen, sprach mit den nicht sichtbaren Insassen. Schon kam er zurück und informierte mich, dass dies das Ziel ihrer Reisegruppe sei, ob ich sie begleiten wolle. Dies bejahte ich und schon wurde ich in eine der abgedunkelten Limousinen gebeten. Die Insassen stellten sich kurz vor und lachten dann, als ich erklärte, dass ich aus Deutschland komme. Gleich verwiesen sie mich darauf, dass ihr Wagen ebenfalls von dort komme. Gleich brausten wir weiter, die Strecke wurde schmaler und verengte sich. Von einer Seite wuchsen die Hügel zu Bergen heran, auf der anderen ging es steil hinab. Nach einem kurzen Stopp am Pass erreichten wir schließlich die gut versteckte Bergsiedlung Shatili.
An den Hängen der Felsen klebten die aus Schieferstein aufgeschichteten Wehrtürmchen. Holzplanken verbanden die hochgelegenen Zugänge. Hier drin sollten wir unsere Unterkunft finden. Am Abend ging es zu einem feierlichen Bankett zwischen den Steinburgen. Der Tschatscha floss in Strömen, sodass die Szenerie zunehmend verschwamm, allein der Blick auf die Milchstraße blieb ungetrübt. Einer meiner Reisegefährten lief zum Wagen, öffnete den Kofferraum und kam mit ein paar Pistolen herbei. In den Bergen hört dich niemand schreien, dachte ich mir noch. Jetzt stellte er sich neben mich, entsicherte und ballerte in den Sternenhimmel. Alles lachte, als ich zusammenzuckte. Auch mal versuchen, wurde ich aufgefordert. Doch lehnte ich ab. Die nächste Erinnerung kam am nächsten Morgen, als wir aufbrachen, um bis an den Grenzposten nach Tschetschenien zu fahren. Als der Weg zu Ende ging, stiegen wir aus und erneut ging der Griff in den Kofferraum. Zweite Chance? Doch auch dieses Mal lehnte ich ab. Also führten die anderen ihre Schießübungen durch, bis wir in den Wagen einstiegen. Danach führte uns der Weg in die Hauptstadt zurück, wo ich an einer der Minibusstationen herausgelassen wurde. Von dort schleppte ich mich ins Hostel zurück, wo ich in mein Etagenbett fiel und eindämmerte.