timo-janca
Wilde Schreie halten durch den Wald, flackernde Fackeln säumten einen sich windenden Weg. Vorhin war die Kolonne noch mit fröhlichen Liedern zum Reich der Bäume marschiert, jetzt krümmte und wand sie sich im Schlamm, knallte gegen aufgeschichtete Holzwände, um an ihnen emporzuklettern. Man schwang sich an Seilen über imaginäre Abgründe. Wohin der beschwerliche Weg führte, war in der einsetzenden Dunkelheit nicht mehr auszumachen. Womöglich hätte man einfach an den Barrikaden vorbeilaufen können, doch dann wäre man in das Ungewisse des mittlerweile undurchsichtigen Stammgewirr geraten. Also kämpfte sich jeder durch den angelegten Schlauch. Das mochte eine halbe Ewigkeit andauern. Doch endlich wurde man freudig in Empfang genommen. Man stand auf einer Waldlichtung. Überall standen Kessel mit dampfenden Eintöpfen herum. Und wirklich jeder hatte eine Flasche mit durchsichtiger Flüssigkeit dabei.
Nun erinnerte ich mich, dass ich eigentlich mit einer Bekannten verabredet war. In der Kolonne hatte ich sie nicht entdecken können, war einfach der Gruppenbewegung gefolgt. Es war ja kein Mangel an Gesellschaft und jeder wollte wenigstens einmal mit mir anstoßen. Beim umgestürzten Baumstumpf standen ihre Freunde. Sogleich fragte ich nach ihr, doch sie meinten, meine Bekannte sei ja im Organisationsteam und deswegen zweifellos beschäftigt. Das war natürlich in zweierlei Hinsicht enttäuschend. Denn nur die Aussicht auf unsere Begegnung hatte mich mitten in der Nacht in ein unbekanntes Waldgebiet gelockt und nun war sie viel zu beschäftigt, um sich mir zu widmen. Wie konnte man denn in der freien Natur, zumal in den Weiten der sibirischen Wälder zu beschäftigt sein? Und dazu musste ich erfahren, dass sie quasi mitverantwortlich für den beschwerlichen Weg mit all seinen Stolperfallen, herbeischwingenden Boxsäcken und Schlammgruben war. Zum Glück ging es auf dieser Lichtung wie bei der Walpurgisnacht zu. Überall wurden Flüssigkeiten mit magischen Effekten hervorgezaubert, schon verlor ich ihre Freundesgruppe und wanderte mit anderen Gestalten. In einer Sitzgruppe machte ich Bekanntschaft mit zwei Nachwuchsforschern aus den USA. Was die wohl im Wald zu begutachten hatten? Wir saßen gar nicht weit von einer einsamen Straße, die zwischen den Bäumen verschwand. Schon dämmerte es und ich überlegte, wo denn eigentlich der Ausgangspunkt unserer Wanderung lag.
Als die anderen aufbrachen, schloss ich mich einfach an. Wie durch ein Wunder erreichten wir den Ort, welcher zu sowjetischen Zeiten für uns Westler unzugänglich war. Akademgorodok, die Insel der Erkenntnis und Innovation, zumindest waren die rotgefärbten Gebäudekomplexe auf kleine Deicherhebungen gestellt. So konnten sich die privilegierten Forscher der Sonne noch ein wenig näher fühlen. Eine Flut wurde eher nicht erwartet. Die Wasser des Stausees vom Ob schmiegten sich friedlich am Sandstrand entlang. An jenem Ort hatte ich auch die Bekannte kennengelernt, bei einem Grillfest am Strand von Sibirien. Dort hatte sie mich auch zu diesem Waldspaziergang eingeladen, bei dem sie selbst im Hintergrund die Fäden zog, ohne selbst aufgetaucht zu sein. Nun näherte sich unsere Wandergruppe den ersten barackenartigen Bauten. Da stand sie dann auf einmal inmitten ihrer Freunde. Im Hintergrund ging schon die Sonne auf und strahlte mir blendend ins Gesicht. Fröhlich begrüßte sie mich und lud mich ein, hineinzukommen. So saßen wir dann in dem beengten Zimmer. An allen Zimmerwänden waren metallene Etagenbetten gestapelt. Lachend warf sie sich auf ihr Bett und ich stand am Fenster, genoss dabei den Ausblick.