timo-janca
Was konnte an einem Tag schon schiefgehen, der behaglich mit Croissant und Kaffee startete? Es wartete ein Tagesausflug von Edinburgh in die Berge um Loch Long. Alles begann nach dem Duschen. Offenkundig hatte ich ein Wäscheteil vergessen, das man jeden Tag wechseln sollte. Nun ja, es ging dann halt ohne. Das gestrige Stück wurde im Waschbecken gereinigt und auf das Fensterbrett zum Trocknen ausgelegt. Schottland ist ja bekannt für seine wärmenden Sonnenstrahlen. Unbeirrt ging es zum Bahnhof: Ticket gezogen, Cash ausgezahlt, Plattform gefunden, nun etwas Musik für die Wartezeit. Leider war der Kopfhörer nicht an seinem Platz. Also begab ich mich auf die Suche nach Ersatz. Vielleicht im Buchladen? Nein, in Schottland gibt es in solchen Geschäften tatsächlich nur Bücher und nicht wie in Deutschland alles von Kaugummis bis Briefumschläge. Irgendwo fand sich aber ein Gemischtwarenladen und endlich konnte ich traditionelle Musik aus Schottland hören, nein, nicht mit Dudelsack. Natürlich die Folkrockband Teenage Fanclub. Bald erlaubte die Zeit den Gang durchs Portal auf den Bahnsteig. Dort erstmal hinsetzen. Mmh, etwas feucht hier. Regnete es durchs Dach? Nein, eine Kaffeelache hatte sich auf dem Sitz ausgebreitet. Dies war das zweite Zeichen, die Reise besser abzubrechen, oder? So ein Unsinn! Stur setzte ich mich in die Bahn. Umstieg in Glasgow funktionierte. Auf der Fahrt im zweiten Zug zeigte sich ein langgezogener See zur Linken.
Schließlich kam der Bahnsteig von Tarbet. Um zum geplanten Aufstieg zum Gipfel des Ben Arthurs zu gelangen, musste man auf einem kleinen Bergpfad ins nächste Dorf wandern. Der begann gleich an der Unterführung der Zugstation. Am Hügelrücken schwebte ich zur Einbuchtung des Loch Long. Schnell war die Serpentine durch das bewaldete Anfangsstück gefunden, das auf die Hochebene führen sollte. Gleich am Anfang schnüffelte ein mausähnliches Nagetier mit seiner spitzen Nase im Boden herum. Kurz dahinter machten mich zwei Wanderer auf ein weiteres mir unbekanntes Nagetier aufmerksam. Es sah wie ein Eichhörnchen ohne Schwanz aus und kroch auf dem Boden herum. Da ich es nicht stressen wollte, lief ich auf dem Waldpfad weiter. Unterwegs kam mir der Gedanke, wie übel der Weg bei Regen wäre. In dem Fall würde sich der aufwärtsstrebende Weg in einen schlammigen Wasserfall verwandeln. Trotz der Wolken rechnete ich weiterhin mit Sonne. Plötzlich öffnete sich der Wald zur Hochebene, links tat sich der Adlerkopf des Ben Arthurs hervor, rechts hatte sich der Riese des Beinn Narnains hingestreckt. Der Weg verlief oberhalb eines Flusses, dessen Zuläufe den Pfad regelmäßig kreuzten. Im Rücken streifte der Blick zwischen zwei Berghängen hindurch zum Loch Lomond, über dem ein weiterer Gipfel aufragte. Schließlich erreichte ich die Gabelung, wo der Weg in einem Oval um und über den Ben Arthur führen sollte. Ich entschied mich für den direkten Weg zum Adlerkopf. Der zuvor gemütliche Weg wurde rasch steiniger. An losem Geröll und zwischen engen Felsklüften ging es hoch bis kurz vor den Gipfel. Angeblich sollte von hier aus eine Wanderroute anschließen, um über die Höhe und den Bergrücken den Rundweg vollständig zu machen. Leider war nicht ersichtlich, wohin man klettern sollte. Auch begann es, gänzlich unerwartet, zu regnen. Unerschütterlich genoss ich die Aussicht auf die umliegenden Bergketten und die Nähe zum markanten Adlerfelsen. Dieser Ort hieß Sitz des Arthurs. Statt den Rundweg abzulaufen, ging es jetzt über die zunehmend glitschigen Steine zurück. Ab der Hochebene wurde der Regenschirm aufgeklappt. Im Eiltempo hastete ich voran. Einigen mutigen Wanderern, mal in voller Regenmontur, mal bloß in T-Shirt und Shorts, wünschte ich Glück beim Aufstieg. Schließlich erreichte ich den Waldpfad, den ich hinunterschwamm. Dann stand ich im Ausgangsdorf.
Links sah ich das Hotel, welches nach dem See benannt war. Erst zögerte ich, weil ich schnell nach Tarbet wollte. Dort würde in drei Stunden der Zug abfahren. Folglich hätte ich noch Zeit, um zum Loch Lomond rüberzuwandern. Dennoch entschied ich mich, im Hotel nach einem heißen Kaffee zu fragen. Hoffnungsvoll betrat ich das Restaurant. Es war völlig leer. Auch an der Bar stand niemand bereit. Fast wollte ich aufbrechen, als ich mich umentschied und an der Rezeption nachfragte. Der Kellner sei ja hier, verkündete der Rezeptionist. Mit einem Mal war die Bar besetzt. Sogleich lief der Kaffee durch. Mutig bestellte ich noch eine Suppe zum Aufwärmen. In der Zwischenzeit überprüfte ich, ob nicht ein früherer Zug führe. Natürlich gab es keinen früheren. Aber darüber hinaus: Mein Zug war gecancelt worden. Erstarrt saß ich am Tisch. Mit mulmigem Gefühl scrollte ich weiter. Um 23:00 sollte noch ein Zug fahren, der jedoch bereits ausverkauft war. Nach einer Beratung an der Bar entschied ich mich, diese Verbindung trotzdem zu versuchen und bis dahin sitzen zu bleiben. Immerhin könne ich das heutige EM-Halbfinale, Spanien vs. Frankreich gucken, schlug der Barkeeper vor. Gerne. Erstmal schlug ich zwei Stunden in der Virtualität tot. Später bestellte ich Fish & Chips. Das wollte ich ohnehin einmal während meiner Reise probieren. Schließlich begann das Spiel. Das Restaurant war relativ leer, doch bald hatte sich eine kleine Traube von Reisenden um meinen Tisch gebildet. Zunächst kam ich mit ein paar Überbringern von Autos ins Gespräch. Eine wahrlich bunte Truppe: Ein Schotte, der zwischen Frankreich und Spanien lebte, weshalb er beim Fußballspiel hin- und hergerissen war. Um seine Identität zu verschleiern, trug er ein Rugbytrikot von Südafrika. Daneben stand sein Kollege aus Rumänien, dessen ukrainische Freundin ihn bestimmt wegen dem früheren Gruppenspiel zwischen beiden Nationen auf den Arm geboxt hatte. Schon Halbzeit! Jetzt ging es zur Bar für einen Cappuccino. Der Barkeeper schlug die Milch mit gewichtiger Geste und auf die Kante des Tresens, um seinem indischen Azubi die perfekte Zubereitungsmethode zu demonstrieren. Schnell zurück zum Spiel! Es ging weiter. Ein weiterer Einheimischer gesellte sich dazu. Wir diskutierten über zahllose Themen, u.a. über das Berühmtsein von Fußballspielern. Er erklärte mir, dass er froh darüber sei, unbekannt und anonym zu leben. So habe man seine Ruhe. Wie mein Gesprächspartner mit sich und seinem Leben zufrieden war, imponierte mir. Ein wohltuendes Gegenbeispiel zu der Selfie-süchtigen Generation, für die jede Situation prominent erscheint. Die Sucht nach Bekanntheit treibe Leute sogar dazu, während eines laufenden Spiels auf den Platz zu rennen, wobei der Fußballverband die Szenen bewusst wegschneide, sodass dem Verzweifelten die Minute Berühmtheit gestohlen werde. Schließlich endete das Spiel. Nach einer herzlichen Verabschiedung hetzte ich den Weg zum Nachbardorf Tarbet.
Immer wieder zweigte eine kleine Straße nach links ab. Ging es hier bereits zum Bahnhof? Die Zeit rannte ebenso und dies war meine letzte Chance, meine Unterkunft im fernen Edinburgh zu erreichen. Endlich kam die Road Street (zu Deutsch: Straßenstraße?). Das kleine Häuschen auf dem Bahnsteig war hell erleuchtet. Kein Mensch weit und breit. Der Blick wanderte zur Zuganzeige. Es sollte wirklich ein Zug um die Stundenangabe aus dem Internet ankommen. Jetzt erstarrte mein Blick: Reservierungspflichtig! Fünfmal las ich den Infotext. Und der Zug sollte weit über Edinburgh hinaus nach London fahren. Mein Tagesticket war auf der festgelegten Route in allen Zügen gültig, bloß ohne Reservierung. Großartig! Unruhig trippelte ich auf der Stelle. Vorhin im warmen Restaurant hatte ich mich über das Chaos gefreut, weil es mich in warmherzige Gesellschaft gebracht hatte. Dazu hatte ich Gelegenheit gehabt, das Halbfinale zu sehen. Jetzt sackte mein Herz zurück in die Magengrube. Da schepperte es auf den Gleisen. Ein düsterer Zug schnaufte herbei. Im ersten Waggon waren die Fenster vergittert, dahinter stapelten sich Pakete. Es war doch die richtige Zeit? Der Zweite Waggon war ebenso mit Kisten zugestellt. Der dritte hingegen war belebt mit Menschen. Endlich stoppte die Bahn. Dann mal auf gut Glück rein. Wenn ich erstmal drin war, würde mich wohl keiner mehr in die Dunkelheit rauswerfen. Nein! Die Tür ließ sich nicht öffnen. Verzweifelt drückte ich auf den Button, dann bei der Nachbartür, auch keine Reaktion. Vorne trat ein Schaffner aus seiner Tür und rief mich zu sich. Damit konnte ich mich nicht mehr in den reservierungspflichtigen Zug schleichen. Sofort musste ich gestehen, dass ich das falsche Ticket besaß, mich jedoch unverschuldet in der miserablen Situation befand. Der Schaffner hatte Mitleid und wies mir sogar einen Sitzplatz zu. Offenkundig war der Zug nicht ausverkauft. Fast alle Plätze waren leer, da die meisten Passagiere wohl erst ab Glasgow oder Edinburgh nach London reisen wollten. Zuletzt saß ich im bequemen Reisesessel und schrieb diese Zeilen, während der Zug durch die Nacht rauschte. Irgendwann würde ich in Edinburgh ankommen und müsste dann eine Nachtwanderung zur Unterkunft überleben. Es kam die Ankunft und ich entstieg der Bahn. Rasch eilte ich zum Ausgang, leider verrammelt. Dann wandte ich mich zum nächsten Tor, es war ebenso versperrt. So lief ich im Kreis. Hier waren nur Gleise und keine Ausgänge. Schließlich fand mich ein Security-Mitarbeiter. Wir sammelten noch zwei weitere verirrte Seelen ein. Dann öffnete er uns einen Aufzug und wir entkamen dem Bahnhofsloch. Jetzt blieb nur noch der nächtliche Fußmarsch zur Unterkunft. Wenn Sie, gewogene Interessierte, diese Zeilen vor sich haben, werde ich es vermutlich sicher ins Hotel geschafft haben.