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Machatschkala -
Der Schein trügt zweimal

Eine Stadt am Ende der Welt. Hier endet die südlichste Eisenbahntrasse Russlands, nachdem sie an den Anläufern des Kaukasus entlanggestrammt ist, freilich mit respektvollen Abstand zu der eigentliche Gipfelkette, welches sich zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer ausdehnt, womit sie eine natürliche Grenze zieht. Jenseits fasst Georgien die südkaukasischen Sprachen zusammen, während auf dieser Seite die nordwestkaukasische Sprachfamilie verbreitet ist. Zu beiden Seiten finden sich zudem Turksprachen, was von der wechselhaften Geschichte der Region zeugt, die stets zwischen den Machtblöcken der Osmanen, Perser und Russen eingekeilt war. Trotz oder gerade wegen des Gerangels der externen Großmächte haben die Bewohner ihre eigenen Sprachen bewahrt. Dies ist auch nicht, wie im Norden Deutschlands, Angelegenheit einer älteren Generation oder irgendwo in einem Dorf versteckt, sondern jede Familie pflegt den seit Urzeiten überlieferten Wortschatz. Eine besonders hohe Sprachvielfalt weist dabei die Republik Daghestan, wenigstens 41 sollen es sein, aber eigentlich spricht jedes Dorf seine eigene Mundart. Verwaltet wird diese bunte Ansammlung von Völkern in Machatschkala.


Am Denkmal des Dichters Rasul Gamsatov beginnt unser Spaziergang. Nach einem Vortrag, wie man aus dieser Ecke der Welt nach Deutschland aufbrechen kann, um neben der russischen Amtssprache und der eigentlichen Muttersprache noch andere Sprachsysteme in sich aufnehmen kann, bewegen wir uns in einer großen Gruppe durch die Straßen. Vor einer Musikschule sammeln sich himmelblaukostümierte Tänzerinnen, die zum Tanz auffordern. Wann immer ich Leute aus Daghestan begegnet bin, gab es immer Anlass zum spontanen Tanz auf der Straße. Orientalisch anmutende Dreher mit im Halbmond gebogenem Arm nach Außen und horizontal auf den jeweiligen Tanzpartner gerichteten Zeigearm nach Innen. Zwischen den natürlichen Bewegungen stolpert ein steifer, unbeholfener Jüngling umher. Gewöhnlich tanzt man in einem Kreis stehend um ein Paar, das im Mittelpunkt steht, und zu meinem Leidwesen darf jeder einmal die Aufmerksamkeit aller genießen. Doch schon geht es weiter über den verbotenen Platz. Damit ist eine unendlich weite, eintönig betonierte Fläche gemeint, um welche sich die Verwaltungsgebäude der stolzen Bergrepublik reihen, noch hinzu kommt der Stab des Geheimdienstes, weshalb man hier nur heimlich fotografieren sollte. Schon führt der Weg entlang der Uferpromenade des Kaspischen Meeres, dessen Weite die zuvor empfundene Freiheit wieder aufwiegt. Gegen Abend fahren wir hinauf in den obersten Stock, von wo aus die Hauptgeschäftsstraße zu sehen ist. Endlich haben wir Zeit einander näher kennenzulernen. Und wirklich rühmt sich die Region zu recht ihrer Vielfalt. Allein die Tracht meiner Begleiterinnen geht von Vollverschleierung bis hautenge Jeans mit T-Shirt. Beim Karaoke sind alle freundschaftlich vereint, denn es gibt keine Unterschiede, wenn man gemeinsam die neuesten Popsongs zusammen singt. An diesem Ort habe ich gelernt, über die traurigen Kopftuchdebatten in manchen Teilen Europas zu lachen oder zu weinen.

Mit vielen guten Wünschen verabschiede ich mich von der Gruppe und besuche noch eine mir bekannte Familie. Beim Essen versucht einer mich zu einer zahnärztlichen Behandlung zu überreden, so könne ich für meine Nachfahren sorgen, wenn ich Gold in meinem Gebiss anlege. Schließlich ist es spät geworden und ich habe zum Gästeflügel auf dem Hochschulcampus zurückzukehren. Schon kommt das Taxi herbei, ein kleines zusammengeknauftes Stück Blech, in dem sich der Fahrer über das Steuer zwängt, da die Sitzhöhe recht knapp bemessen ist. Zögernd quetsche ich mich durch die Tür auf den Beifahrersitz. Ein letzter, hoffnungsvoller Blick zu meinen Bekannten, und schon geht die holprige Fahrt los. Nein, bloß keinen Gurt anlegen, drängt mein Fahrer, das sei gefährlich. Ich vertraue ihm und komme tatsächlich am Campus an. Nun würde die Verhandlung um die Fahrtkosten beginnen, doch der Fahrer schüttelt den Kopf. Ich sei ja Gast in seinem Land, wie könne er da Geld von mir annehmen. Ich bedanke mich und steige aus. Schon gurkt das Gefährt weiter. Um den Campus läuft ein hoher Zaun, dahinter liegt der düstere Park. An zwei Stellen befindet sich ein Pförtnerhaus, um das gesicherte Gebiet zu betreten. Ich erinnere mich: Diese Stadt liegt in der Zone regelmäßiger terroristischer Anschläge, weshalb, wie auch in anderen Teilen des nördlichen Kaukasus, Hochschulen besonders abgeschirmt operieren. Beispielsweise sind im Verwaltungstrakt der Universität in Naltschik die Türen zwischen den Korridoren stets abzuschließen, seitdem ein Attentäter hineingelaufen und um sich geschossen hat. Aber die von Naltschik aus verwaltete Kabardino-Balkarische Republik gilt im Vergleich zu Daghestan als weitaus risikoärmer! Mit diesem lästigen Wissen im Hinterkopf stehe ich nun vor dem verschlossenen Tor des Campuses. Kein Pförtner zu sehen. Also marschiere ich einmal rund um das Unigelände, sicherlich gibt es einen Haupteingang oder ich kann eine Gruppe Studierender von drüben herbeiwinken. Doch weder auf den Straßen noch im Inneren ist noch irgendjemand zu sehen. Alles scheint wie ausgestorben. Oder alle verschanzen sich in der Sicherheitszone des Campus? Schließlich rufe ich meinen Unikollegen an. Der erklärt mir, was ich schon geahnt habe. Aus Sicherheitsgründen wird der Campus abends und nachts abgeriegelt. Nun stehe ich wieder vor einem der Tore. Vor welchem Tor, fragt die Stimme im Handy. Na ja, vor einem, wo das Pförtnerhaus rechts von der Ausfahrt steht, kommt meine unschlüssige Erwiderung. Ok, mal sehen, erwidert mein Kollege und legte auf. So stehe ich noch eine Weile ratlos herum, bis auf einmal aus dem Dunkel des Campuspark einer der Nachtwächter auftaucht und mich hineinlässt. Beruhigt gehe ich schlafen.


Eine Woche später, als ich bereits mit der Zuglinie nach Hause gefahren bin, welche auch die tschetschenische Republik im nördlichen Zipfel anschneidet, weil sie dort für eine Stunde einen Halt macht, wo ich mich davon überzeugen kann, das hier die modernsten Wohnblöcke Russlands als eisblaue Monolithe in die Höhe wachsen, nun, eine Woche später erfahre ich es aus den Nachrichten: Schon wieder hat es einen Selbstmordanschlag im Zentrum Machatschkalas gegeben. Diese Information mag einfach nicht mit meinen Eindrücken zusammengehen. Schließlich habe ich nur Frieden und Freundschaft an demselben Ort erlebt.